Tibet
Tibet
Tibet war von 1912 bis 1951 ein de facto unabhängiger Staat auf dem Hochland von Tibet. Tibet, jahrhundertelang unter chinesischer Suzeränität, konnte in dieser Zeit aufgrund der inneren Konflikte in China sich faktisch völlig von der chinesischen Oberhoheit lossagen, ohne dabei international als unabhängiger Staat anerkannt zu werden. Im Vertrag von Sankt Petersburg von 1907 hatten sich das Vereinigte Königreich und das Russische Kaiserreich auf die Abgrenzung ihrer Interessengebiete in Zentralasien geeinigt, die die faktische chinesische Suzeränität über Tibet bestätigte. 1910 verlegte die kaiserliche chinesische Regierung Truppen zur Niederschlagung von Aufständen und zur Bekräftigung des chinesischen Herrschaftsanspruchs nach Tibet.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die chinesische Regierung Bestrebungen, Tibet unter ihre Kontrolle zu bringen, wieder auf. Im Oktober 1950 rückten Truppen der Volksbefreiungsarmee in Richtung Tibet vor. Appelle der tibetischen Regierung an die Vereinten Nationen blieben erfolglos, im Mai 1951 unterzeichnete eine tibetische Delegation unter massivem Druck das Abkommen zur friedlichen Befreiung Tibets, welches der chinesischen Regierung die Kontrolle über die tibetische Außenpolitik gab und die Stationierung von Truppen in Tibet erlaubte, gleichzeitig aber Tibet weiterhin innere Autonomie zusicherte. In den ersten Jahren ließ die chinesische Führung das politische System des Landes zwar unangetastet, begann aber in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zunehmend eigene chinesische Verwaltungsstrukturen aufzubauen, die Infrastruktur entsprechend auszubauen und Programme zur Landreform in Angriff zu nehmen.
Diese Entwicklung führte 1959 zum Tibetaufstand mit zehntausenden Todesopfern auf tibetischer Seite. Der Dalai Lama floh daraufhin nach Indien, worauf China alle Regierungsfunktionen des Landes übernahm und Tibet 1965 als Autonomes Gebiet Tibet vollständig in die administrative Gliederung der Volksrepublik China einband.
Die Volksrepublik China (VRC) hat mit der Zerstörung und Umwandlung der buddhistischen Klöster- und Studienzentren Lagrung Gar und Yachen Gar in der westlichen Provinz Sichuan neue Tatsachen in der Auseinandersetzung geschaffen. Beijing hatte im Juni 2016 aus "sanitärer Besorgnis" die Reduzierung der Bewohner auf rund 5.000 bis Ende September 2017 angekündigt. Berichten von Menschenrechtsgruppen zufolge sind an die 4.000 Bewohner "umgesiedelt“ und Tausende von Wohnhäusern der Mönche und Nonnen zerstört worden.
Obwohl auch Menschenrechtsgruppe die Überlastung des weltweit größten Studienzentrums als Problem benennen, bemängeln sie den intransparenten Prozess und die gewaltsame Vertreibung von Bewohnern. Da die Region großräumig gesperrt ist, lässt sich die Lage vor Ort nur erahnen. Satellitenbilder zeigen, dass um das ehemalige Studienzentrum neue, breitere Straßen sowie Hotels entstehen sollen. China will das Kloster offensichtlich in eine Touristenattraktion umwandeln. Mindestens drei Nonnen haben im Zuge der Vertreibungen Selbstmord begangen.
Die internationale Gemeinschaft reagierte mit vereinzelten Protesten: So verabschiedete die EU im Dezember 2016 eine Resolution, mit der sie Beijing zum Stopp der Vertreibungen aufrief. Auch Experten aus sechs Länder protestierten gegen den Zwangsabriss. Bereits im September hatte der damalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz den Dalai Lama empfangen.
Die Maßnahmen um das Studienzentrum reihen sich ein in den von chinesischen Behörden vorangetriebenen Ausbau der Infrastruktur und der touristischen Erschließung des Hochlands. Beijing hat im August 2016 mit Wu Yingjie einen neuen Parteichef ernannt. Wu ist in Tibet aufgewachsen. Sein Vorgänger Chen Quanguo wurde nach fünf Jahren zum Parteichef in der Autonomen Region Xinjiang ernannt. Auf dem 19. Parteitag im Oktober 2017 hat Partei- und Staatschef Xi Jinping bekräftigt, dass er unerbittlich gegen alle Versuche vorgehen werde, die territoriale Integrität der VRC in Frage zu stellen.
Ursachen und Hintergründe
Die Unruhen von 2008 hatten eine neue Phase des Konflikts eingeleitet. Am 12. März hatten chinesische Sicherheitskräfte friedliche Proteste von Mönchen aus Klöstern um Lhasa anlässlich des Jahrestags des tibetischen Aufstands vom 10. März 1959 gewaltsam aufgelöst. Daraufhin randalierten am 14. März Tibeter gegen Läden von Han-Chinesen in der Innenstadt von Lhasa. Laut TCHRD kamen 120, nach Angaben Beijings 19 Menschen ums Leben. Nach der auf die Krawalle folgenden Repression weiteten sich die tibetischen Proteste auf die Nachbarprovinzen aus. Die chinesische Zentralregierung verurteilte mindestens sieben Menschen zum Tode und Dutzende zu lebenslangen Haftstrafen. Überwachungen sowie sogenannte patriotische Erziehungskampagnen, insbesondere an Klöstern und Schulen, haben sich seitdem massiv verschärft.
Die Welle von Selbstverbrennungsprotesten (2011-2013), zunächst von Geistlichen in einzelnen Klosterregionen (Gansu/Qinghai), später auch von Laien (insbesondere Schüler und Lehrer) in allen tibetischen Siedlungsgebieten, hat sich seit Anfang 2014 infolge der massiven Repression gegen Angehörige und ganze Dörfer abgeschwächt. Rigorose Überwachung und anhaltende politische Disziplinierungskampagnen, insbesondere gegen Klöster, halten bis heute an. Laut Berichten verschiedener Menschenrechtsorganisationen haben bei Tibetern Folter und Todesfälle in Haft massiv zugenommen.
Ethno-politische Auseinandersetzungen bilden den Kern des Tibet-Konflikts. Die Parteien vertreten unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf den Grad der Souveränität und des Einflusses der chinesischen Politik und Wirtschaft in den tibetischen Siedlungsräumen. Diese umfassen außer der autonomen Region am Himalaya auch Teile der Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Zusammengenommen machen sie rund ein Viertel des chinesischen Territoriums aus. Der Dalai Lama, das geistige Oberhaupt der Tibeter, spricht sich im Rahmen eines "mittleren Weges" gegen die Unabhängigkeit, aber für eine weitreichende Autonomie eines einheitlichen Verwaltungsraums aller historischen tibetischen Siedlungsgebiete aus. Die chinesische Regierung lehnt dies als "Eingriff in die territoriale Integrität" ab und will lediglich die Teilautonomie für die TAR beibehalten.
Der Dalai Lama, der im März 2011 seinen Rückzug aus dem politischen Leben verkündet hatte, erkläre erstmals im Herbst 2014 in einem Interview, dass er möglicherweise der letzte Amtsinhaber sein werde. Bereits früher hatte er gesagte, dass der nächste Dalai Lama auch auf andere Weise als durch Wiedergeburt bestimmt werden könne. Beijing hatte auf der Basis bestehender Gesetze daraufhin bekräftigt, dass allein ein von Beijing eingesetzter Dalai Lama rechtmäßig sei.
Der in Harvard studierte Rechtswissenschaftler Lobsang Sangay wurde im März 2016 zum Oberhaupt der exiltibetischen Regierung in Dhramshala (Indien) wiedergewählt. Sangay, der selbst noch nie in Tibet war, gilt als Unterstützer des "mittleren Weges" des Dalai Lama. Dass Sangay seinen Rivalen und Gegenkandidaten Penpa Tsering, zuvor Sprecher des Parlaments, mit Hinweis auf Korruptionsvorwürfen aus der Versammlung ausschloss, brachte ihm einige Kritik ein.
In der Exilgemeinschaft finden sich auch andere Stimmen. U.a. setzt sich der 1970 gegründete tibetische Jugendkongress mit nach eigenen Angaben weltweit 35.000 Mitgliedern für die "Befreiung Tibets von der chinesischen Herrschaft" und politische Unabhängigkeit ein. Viele Tibeter empfinden die Gängelung der Klöster und die Entweihung von heiligen Bergen durch den Bau von Minen als Provokation. Die städtische Jugend begrüßt aber auch die von China vorangetriebene Modernisierung mit neuen Arbeitsmöglichkeiten und Lebensentwürfen. Zugleich fühlt sie sich benachteiligt, vor allem aufgrund des ungleichen Zugangs zu Ressourcen (z.B. Bildung und Kapital) sowie der Privilegierung von Han-Chinesen auf dem Arbeitsmarkt.
Auf der 6. Arbeitskonferenz zu Tibet im Juli 2015 hat Peking ein neues Entwicklungspaket mit dem Fokus auf den Ausbau der Infrastruktur und der öffentlichen Dienstleistungen sowie Umweltschutz für Tibet beschlossen. Der neue Parteichef Wu und der im Januar 2017 eingesetzte Governeur Qi Zhala haben zu Beginn des Jahres 2017 die Sicherheitskontrollen, vor allen an den Grenzen Tibets, noch einmal verschärft.
Von chinesischer Seite wird eine vollständige politische Autonomie ausgeschlossen. Im "Gesetz für regionale Autonomie ethnischer Minoritäten" (1984, zuletzt überarbeitet 2005) wird eine Ethnie als kulturelle und soziale, nicht aber als politische Einheit definiert. Selbstverwaltung könne deshalb nur im Rahmen des zentralistischen Systems und unter Führung der Kommunistischen Partei eingeräumt werden. Peking schreibt u.a. vor, dass in allen Schulen in der autonomen Regionen sämtliche Unterrichtsfächer – außer Tibetisch und Englisch – in Chinesisch unterrichtet werden.
Auch aus Sorge über den wachsenden Einfluss radikaler exiltibetischer Kräfte will Beijing die Entwicklung einer neuen, charismatischen Führungsfigur wie die des 14. Dalai Lama unbedingt verhindern. Im Rahmen eines im August 2007 von Peking verabschiedeten Gesetzes wurde die Anerkennung der Reinkarnation des nächsten Dalai Lamas an zwei Bedingungen geknüpft: Sie muss innerhalb der Volksrepublik stattfinden und durch das nationale Religionsbüro anerkannt werden.
Nach dem Antritt der neuen Führung um Parteichef Xi Jinping im Oktober 2012 hat der Dalai Lama in Interviews mehrmals dessen "realitätsnahe Denkweise" und zupackende Art gelobt. 2014 berichteten ausländische Medien über eine Annäherung und eine mögliche Pilgerreise des geistigen Oberhaupts der Tibeter nach China. Beijing hat durch seine anhaltende Diskreditierung des Dalai Lama und die Kritik seines "mittleren Weges" im jüngsten Weißbuch zu Tibet von April 2015 jedoch jeder Art von Annäherung und Austausch eine Absage erteilt.
Seit 2012 hat sich der in Indien ansässige 27-jährige Kamapa Lama, Oberhaupt der ältesten Reinkarnationslinie und Schule des tibetischen Buddhismus, mehrfach zu China geäußert. Manche Beobachter sehen in dem internetaffinen Ogyen Trinley Dorje einen möglichen Brückenbauer nach Beijing, andere verdächtigen ihn als gekauften Spion.
Der heutige Konflikt hat direkt mit der Gründung der Volksrepublik China 1949 begonnen und der kurz darauf folgenden Ankündigung Mao Zedongs, auch Tibet zu "befreien". 1950/51 drang die Volksbefreiungsarmee bis nach Lhasa vor. Im Mai 1951 unterzeichneten Repräsentanten der tibetischen und chinesischen Regierung das "17-Punkte-Abkommen zur friedlichen Befreiung Tibets", das die Souveränität Chinas über die tibetischen Gebiete, die Stationierung von Truppen bei gleichzeitiger Anerkennung einer regionalen politischen Autonomie und der Klerusherrschaft festschreibt. Der Dalai Lama hatte das Dokument per Telegramm anerkannt. Später bezeichnete er, wie auch andere Teile der exiltibetischen Gemeinde, die Unterzeichnung als "mit Waffengewalt erzwungen".
Wachsende Unzufriedenheit der Tibeter angesichts zunehmender sozialer und politischer Kontrolle Pekings führte schließlich zu einer offenen Revolte. Bei dem größten Aufstand am 10.3.1959 in Lhasa kamen vermutlich Tausende ums Leben. Der Dalai Lama, ein großer Teil seiner Administration sowie rund 80.000 Tibeter flohen nach Indien. 1965 gründete die chinesische Regierung in dem ehemaligen Einflussgebiet des Dalai Lama die Autonome Region Tibet.
Im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik 1978/79 erlaubte Beijing religiöse Aktivitäten im Rahmen politischer Kontrolle (u.a. erzwungene Verleugnung der Autorität des Dalai Lama durch Geistliche). 1995 bestimmten der Dalai Lama und Beijing zwei unterschiedliche tibetische Kinder als Reinkarnation des Pantschen Lama, des zweithöchsten geistlichen Führers. Der Verbleib des vom Dalai Lama eingesetzten Mönches ist nicht bekannt. Menschenrechtsorganisationen beschuldigen Beijing, ihn entführt und eingesperrt zu halten.
In der Auseinandersetzung um die Statusfrage Tibets interpretieren beide Seiten die Geschichte der Region unterschiedlich. Die tibetische Exilregierung in Dharamshala verweist auf die Unabhängigkeitserklärung des 13. Dalai Lama nach dem Fall der Qing-Dynastie 1911. Eine Anerkennung durch andere Staaten erfolgte damals nicht. Aufgrund der inneren Unruhen in China durch Kriege war Tibet von 1911 bis 1949 de facto unabhängig. China betont jedoch, dass die tibetischen Gebiete bereits während der Yuan-Dynastie (1279-1368) in das chinesische Staatsgebiet eingegliedert worden seien. Diese Zugehörigkeit sei nie durch eine andere politische Souveränität unterbrochen worden.